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Das Chaos - Zeitzeugenbericht von Kurt Motlik

Bild von Kurt MotlikNACHKRIEGSZEIT

Das Chaos

In Wien begann die Nachkriegszeit bereits am 15.04.1945, nachdem im 21. Bezirk die restlichen Widerstandsnester der deutschen Truppen niedergerungen waren. Zaghaft kamen die Menschen aus ihren Schutzräumen und sahen nur fremde Soldaten, Militärfahrzeuge, Trümmer und tote Menschen, die auf der Straße lagen.

Noch zu Weihnachten 1945 herrschte das totale Chaos. Bezeichnend für die damaligen Zustände waren die letzten Sätze einer Weihnachtsansprache des damaligen Bundeskanzlers Leopold Figl an das österreichische Volk: „Ich kann Euch zu Weihnachten nichts geben. Ich kann Euch für Euren Christbaum, so ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben, kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen und kein Glas zum Einschneiden der Fenster. Wir haben nichts. Ich kann Euch nur bitten_ Glaubt an dieses Österreich.“ Und die Menschen haben damals in schwerster Not an dieses Österreich geglaubt. Dadurch ist das entstanden, was wir heute haben: Eine schöne, friedliche Heimat, um die uns viele Menschen in der Welt beneiden.

Die ganze Stadt war durch die schweren Straßenkämpfe und die vorangegangenen Bombenangriffe arg verwüstet. Es gab keinen Strom, kein Gas und um Wasser musste man sich bei den wenigen noch funktionierenden Hydranten lange anstellen, um seine Kübel und Kannen voll zu bekommen. Dabei musste man immer Angst haben, von sowjetischen Soldaten beraubt oder verschleppt zu werden. Die Zerstörungen an den Strom- und Gasleitungen waren so schwer, dass noch im Herbst 1947 Sperrzeiten erforderlich waren. Die Zufuhr erfolgte nur zwei Stunden am Vormittag und zwei Stunden am Abend. Es gab auch kaum einen Straßenverkehr. Man hatte fast keine privaten Straßenfahrzeuge, keine öffentlichen Verkehrsmittel, keine Post und keine Eisenbahn. Auf den Straßen sah man nur Militärfahrzeuge, Handkarren und alte Kinderwagen. Dieser spärliche Verkehr wurde in der Regel von sowjetischen Polizistinnen geregelt.

Man bildete zwar eine provisorische, österreichische Verwaltung und bestellte eine Regierung, doch alle Entscheidungen wurden von der sowjetischen Kommandozentrale in Wien getroffen. Von dieser wurden auch fragwürdige Gestalten als „Hilfspolizei“ eingesetzt, da es eine reguläre Polizei noch nicht gab. Übergriffe aller Art waren daher auf der Tagesordnung.

Da in den letzten Kriegstagen unkontrolliert die Tore der Konzentrationslager und der Gefängnisse geöffnet wurden, befanden sich unter den sogenannten Verfolgten auch viele Verbrecher.

Durch Lebensmittellieferungen aus der Sowjetunion und Sachspenden aus dem Ausland war es möglich, geringe Mengen Nahrungsmittel und andere dringenst benötigte Güter zu erhalten. Wie im Krieg wurden Lebensmittelkarten ausgegeben und für besonders dringende Fälle Bezugscheine ausgestellt. Trotzdem kam es häufig vor, sich stundenlang anstellen zu müssen, um die rationierten Lebensmittel zu bekommen, da man immer Angst hatte, leer auszugehen. Manchmal kamen die erwarteten Waren viel später als sonst oder sie kamen gar nicht. Nur Kinder bekamen einmal pro Tag eine warme Mahlzeit in großen Speise- oder Turnsälen. Diese bestand in der Regel aus einem in Wasser angerührten Milchpulver mit Reis, Haferflocken oder Nudeln. Dazu zählten auch Schüler von höheren Schulen.

Menschen die noch einigermaßen bei Kräften waren, aber Hunger hatten, gingen für sowjetische Soldaten, wenn auch widerwillig, Blut spenden. Man erhielt dafür, außer einer warmen Mahlzeit, geringe Mengen Lebensmittel, 300,- ÖS Besatzungsgeld, das keinen Kaufwert besaß und eine Bestätigung, wonach man eine Woche lang zu keinen schweren Arbeiten herangezogen werden durfte.

Da auch kein Heizmaterial erhältlich war, suchten die Menschen in den Trümmern der Häuser nach Holz, Pappe und anderen brennbaren Gegenständen. Später konnte man mit einer amtlichen Sondergenehmigung geringe Mengen Fallholz aus den umliegenden Wäldern holen.

Trotz dieser tristen Verhältnisse musste jeder Erwachsene 40 Stunden schwere Notstandsarbeiten leisten, um unsere zerstörte Heimat wieder aufzubauen. Bei Nichterfüllung dieser Pflicht wurde man bestraft und erhielt eine Zeit lang keine Lebensmittelkarten. Zum Nachweis der geleisteten Arbeit erhielt man einen amtlichen Arbeitsschein.

In solchen Notzeiten entwickelt sich überall ein verbotener „Schwarzmarkt“, wo man im „Schleichhandel“ an bestimmten Orten der Stadt gegen viel Bargeld oder im Tausch gegen wertvolle Waren alles bekommen konnte. Besonders arm dran waren alte und kranke Menschen, um überleben zu können. Es gab aber häufig Razzien, bei welchen alle Tauschgüter beschlagnahmt und kräftige Strafen verhängt wurden.

Besonders findige Köpfe bastelten aus alten Teilen schwerbeschädigter Fahrzeuge Behelfsbusse (Holzbänke auf offener Ladefläche) und veranstalteten von Wien aus sogenannte „Hamsterfahrten“ in das ländliche Umland. Die „Hamsterer“ versuchten bei Bauern ebenfalls Schmuck oder Kleidungsstücke gegen Lebensmittel einzutauschen. Auch das war verboten und man musste immer damit rechnen, dass bei Kontrollen unterwegs alles wieder beschlagnahmt wurde.

Die Not wurde noch größer, als tausende Flüchtlinge aus der damaligen Tschechoslovakei unsere Stadt überschwemmten. Diese Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben, nur weil sie Deutsche waren. Man hatte sie vorerst bei uns in großen Hallen oder Sälen notdürftig untergebracht und wurden vom Roten Kreuz verpflegt. Ein Teil dieser Flüchtlinge zog später weiter nach Deutschland, weil viele dort Verwandte hatten. Ein weiterer Teil wurde von anderen Ländern aufgenommen und andere wieder blieben in Österreich, wurden in Notquartieren untergebracht und im Laufe der Zeit ein Teil der Gesellschaft. Sie bekamen Arbeit, eine bessere Wohung und ihre Kinder gingen bei uns zur Schule.

Im Herbst 1945 einigten sich die vier Siegermächte (Sowjetunion, USA, Großbritanien und Frankreich) darauf, Österreich als Land und Wien als Stadt in vier Besatzungszonen aufzuteilen. Nur der erste Bezirk wurde zu einer internationalen Zone erklärt. Jede Besatzungsmacht war in ihrer Zone für die Versorgung der Zivilbevölkerung verantwortlich. Deshalb gab es auch hinsichtlich Menge und Qualität der Lebensmittel sehr große Unterschiede.

Unterdessen verbesserte sich auch die Sicherheit in unserer Stadt, da ständig internationale Militärstreifen („Die Vier im Jeep“) unterwegs waren, um für Ordnung zu sorgen.

Zu weiteren chaotischen Zuständen führte die Tatsache, dass die Besatzungssoldaten österreichische Banknoten selbst mitbrachten und auch ausgaben. Dies führte zu einer katastrophalen Entwicklung des Geldwertes. Im Dezember 1947 musste deshalb eine 2. Währungsreform durchgeführt werden, wobei die bei der 1. Währungsreform im Dezember 1945 (Umtausch von Reichsmark in Schilling) umgewechselten Schillinge ihre Zahlkraft verloren und durch neue, wertvole Schillinge ersetzt wurden. Da man mit dem neuen Geld wieder Dinge kaufen konnte, die man bisher nicht bekam, war der Ansturm auf die Banken so groß, dass man sich oft stundenlang anstellen musste, um pro Kopf 150 alte gegen 150 neue Schillinge umtauschen zu können.

In der Zwischenzeit kamen immer mehr Heimkehrertransporte mit ehemaligen kriegsgefangenen Soldaten in ihre Heimat zurück. Ein Teil davon wurde vorerst in der Landwirtschaft beschäftigt, da die Versorgung mit den erforderlichen Grundnahrungsmittel noch immer sehr schlecht war. Vorerst standen aber nur ganz primitive Mittel zur Verfügung, um die Ernte auch einbringen zu können.

Ab dem Jahr 1950 gab es schon viele Dinge zu kaufen, aber viele Menschen konnten sich das meiste nicht leisten. Obwohl sie lange arbeiten mussten, konnten sie sich immer weniger kaufen, da die Preise den Löhnen davonliefen. Es reichte gerade noch zum Leben. Viele Menschen waren deshalb unzufrieden. Dies wollten die Kommunisten ausnützen und versuchten im Herbst 1950 durch einen Generalstreik an die Macht zu kommen. Sie errichteten Straßensperren, besetzten Bahnhöfe und wollten sogar das Bundeskanzleramt stürmen. Doch beherzte Bauarbeiter schlugen die Gewalttäter mit Hilzprügel in die Flucht und konnten dadurch den geplanten Putsch verhindern.

Wie schon erwähnt, waren Österreich und Wien in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Während man in Wien uneingeschränkt von einer Zone in die andere gehen oder fahren konnte, bestand zwischen der gesamt-österreichischen Sowjetzone und den drei Zonen der anderen Besatzungsmächte ein sogenannter „Eiserner Vorhang“ aus Minen, Stacheldraht und Wachtürmen. An dieser Demarkationslinie waren einige streng kontrollierte Übergänge, die man nur mit einer viersprachigen Identitätskarte benützen konnte. Hierbei wurde das Gepäck sehr genau geprüft und fallweise musste man sogar Leibesvisitationen über sich ergehen lassen. Oft musste man lange Wartezeiten in Kauf nehmen, ohne zu wissen, weshalb. Es war eine reine Schikane.

Die Bürger der Sowjetzone mussten sich noch lange in Geduld üben, um sich als Österreicher in ihrer Heimat frei bewegen zu können. Dies war erst möglich, nachdem der letzte Besatzungssoldat im Oktober 1955 Österreich verlassen hatte.

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