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Pfropfen für die Ernährungslücke - Zeitzeugenbericht von Kurt Motlik

Bild von Kurt MotlikPfropfen für die Ernährungslücke

Während des 2. Weltkriegs waren fast alle Verbrauchsgüter, natürlich auch Lebensmittel, streng bewirtschaftet und dies wurde natürlich auch behördlich überwacht. Verstöße gegen diese Kriegswirtschaftsgesetze, insbesondere durch Schleich- und Schwarzhandel, wurden sehr hart bestraft. Die Versorgung der Zivilbevölkerung funktionierte bis zum Kriegsende verhältnismäßig gut. Die Rationen wurden zwar von Jahr zu Jahr kleiner, doch man erhielt sie regelmäßig trotz der Zerstörung durch die zahlreichen Bombenangriffe. Vorräte konnte man sich aber keine anlegen.

Wenige Tage vor der Eroberung Wiens durch sowjetische Truppen räumte die Deutsche Wehrmacht ihre Unterkünfte und floh in Richtung Westen. Da diese Räumung in der Regel chaotisch verlief, wurden alle Güter, darunter auch Lebensmittel, die offenbar nicht mehr benötigt wurden oder aus Platzmangel nicht mehr verladen werden konnten, ebenso chaotisch an die Zivilbevölkerung verteilt.

Nach dem Abzug der deutschen Truppen entstand für einige Tage ein gesetzloser Zustand, bei dem es natürlich auch zu Plünderungen kam. Obwohl diese kriminellen Handlungen in normalen Zeiten strafrechtlich verfolgt worden wären, musste man hier die Motive rein menschlich betrachten. Ohne diese Vorgänge entschuldigen zu wollen, galt es einerseits eine Überlebenschance zu nützen und andererseits zu verhindern, dass diese lebensnotwendigen Güter in den Besitz der fremden Soldaten gelangten. Am ärmsten waren hierbei schwache, kranke und ängstliche Menschen, die sich an diesen Aktionen nicht beteiligen konnten. Innerhalb der Hausgemeinschaften entwickelte sich aber eine unglaubliche Solidarität, sodass auch diese Menschen nicht im Stich gelassen wurden und an der „Beute“ teilhaben konnten.

Es ergaben sich aber auch kuriose Dinge in diesen Tagen der Gesetzlosigkeit. So wurden zum Beispiel aus der Auslage eines ohnehin spärlich bestückten Schuhgeschäftes alle Schuhe geplündert. Das Pech war, dass sich in dieser Auslage nur lauter rechte Schuhe befanden und die linken Schuhe dazu nicht ausfindig gemacht werden konnten. Hauptsächlich wurden aber aus den noch bestehenden Lagern kisten- oder kübelweise Lebensmittel geplündert, wie Babynahrung, Kunstspeisefett, Eier, Kunsthonig, eingesalzenes, rohes Fleisch u. ä. Auf diese Weise konnte die sehr triste Ernährungslage, wenn auch in etwas eigenartigen Kombinationen, für einige Tage etwas verbessert werden.

Ein jähes Ende fand in Wien diese Art der „Selbstversorgung“ nach der Besetzung durch sowjetische Truppen, denn von diesen wurde der Rest noch vorhandener Güte entweder selbst geplündert oder beschlagnahmt. Auch hierbei kam es mitunter zu kuriosen Handlungen. So wurden zum Beispiel in den Wiener Weinbaugebieten volle Weinfässer nicht auf die übliche Art entleert, sondern die Soldaten schossen sie leck und füllten so den herausfließenden Wein in verschiedene Gefäße ab. Der restliche Wein floss zu Boden, sodass man darin knöcheltief waten musste, um eventuell auch zu diesem köstlichen Nass zu gelangen. Unter den Besatzungssoldaten waren dadurch Alkoholexzesse, verbunden mit Vergewaltigungen, an der Tagesordnung. Besonders beliebt waren bei diesen Soldaten aber auch Armbanduhren und Fahrräder der Zivilbevölkerung, die sie mitunter durch Androhung von Waffengewalt ganz einfach an sich nahmen.

Doch auch diese Zeit ging bald zu Ende, da die sowjetischen Militärbehörden begannen, alle kriminellen Delikte mit hohen Strafen zu belegen. Mit deren Unterstützung wurde bald eine Zivilverwaltung aufgebaut, deren vorrangigste Aufgabe vorerst darin bestand, die Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern zu versorgen. Da es aus den bereits erwähnten Gründen in Wien keine Lebensmittelvorräte gab und die Zufuhr aus dem ländlichen Raum wegen fehlender Verkehrsmittel nicht möglich war, baten unsere Regierungsvertreter die sowjetischen Militärbehörden um rasche Hilfe. Diese wurde auch gewährt, hielt sich aber hinsichtlich Menge und Qualität in sehr engen Grenzen. Die Abgabe erfolgte wie in der Kriegszeit über Lebensmittelkarten. Diese bekam man aber nur dann, wenn eine Woche lang gesetzlich vorgeschriebene Aufräumungsarbeiten geleistet wurden. In unregelmäßigen Abständen erhielt man hauptsächlich getrocknete Bohnen und Erbsen, Haferflocken, Maisgries, manchmal auch dunkles Mehl und etwas Fett. Die Rationen waren aber zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Deshalb entschloss sich die Wiener Gemeindeverwaltung, brachliegende Flächen der Bevölkerung kostenlos und auf unbestimmte Zeit zum Anbau von Gemüse und Kartoffeln zur Verfügung zu stellen. Trotzdem gab es eine permanente Ernährungslücke. Diese zu schließen war sehr schwierig, da sie vom Organisationstalent und den vorhandenen Möglichkeiten jedes einzelnen Menschen abhängig war. Sehr rasch entstand ein blühender, jedoch streng verbotener Tausch- und Schwarzhandel, der sich auf verschiedenen Ebenen abspielte. Am problemlosesten war jene Ebene, wo im Verwandten- oder Bekanntenkreis zum Beispiel Zigaretten oder alkoholische Getränke gegen Lebensmittel oder andere Gebrauchsgüter getauscht wurden. Eine weitaus gefahrvollere Art war die Beschaffung von Lebensmittel im Schleichhandel oder auf dem Schwarzmarkt. Im ersteren Fall musste man zu professionellen Schleichhändlern Kontakt aufnehmen, um gegen hohe Geldbeträge oder wertvolle Sachgüter in den Besitz von Lebensmittel zu gelangen, ohne genau ihre Qualität zu kennen. Diese Handlungen spielten sich hauptsächlich in Wohnungen oder anderen geschlossenen Räumen ab. Der sogenannte Schwarzhandel erfolgte hingegen auf bestimmten Straßen oder Plätzen, also im Freien, wo man wie auf einem Markt ebenfalls wertvollere Sachgüter (Schmuck, Bekleidung, u. ä.) gegen Lebensmittel, Zigaretten oder alkoholische Getränke tauschen konnte.

In Wien gab es zwei große, allseits bekannte Schwarzmärkte: im Resselpark bei der Karlskirche und am Naschmarkt. Dort konnte man auch sowjetische Soldaten beim Handeln sehen. Da jeder Schleich- und Schwarzhandel behördlich verboten war, wurden häufig Razzien durchgeführt. Wenn man Glück hatte, wurden hierbei nur die Tauschgüter beschlagnahmt. Hatte man aber Pech, wurde man zusätzlich noch eingesperrt.

Für die Stadtbevölkerung ergiebiger war der Tauschhandel im ländlichen Raum. Doch gab es in den ersten Monaten nach dem Krieg kaum öffentliche Verkehrsmittel und private schon gar nicht. Die wenigen Eisenbahnzüge, welche noch dazu unregelmäßig verkehrten, waren kriminell überfüllt. Die Menschen hingen während der Fahrt an den Trittbrettern, standen zwischen den Wagen auf den Puffern oder sie saßen auf den Wagendächern, nur um einige Kilogramm Kartoffeln oder Obst nach Hause bringen zu können. Aber es gab auch findige Kfz-Mechaniker. Sie bastelten aus Teilen verschiedener Fahrzeugwracks offene LKWs, stellten Holzbänke auf die Ladefläche und veranstalteten sogenannte „Hamsterfahrten“ in den von Wien entfernt gelegenen ländlichen Raum. Damit bekamen Stadtmenschen die Möglichkeit, dort ihre Waren gegen Lebensmittel zu tauschen. Da es noch immer keinen üblichen Treibstoff gab, mussten diese „Hamsterbusse“ mit einem noch aus dem Krieg stammenden Holzgasgenerator betrieben werden. Doch auch dieser Versuch, die Ernährungslücke wenigstens teilweise zu schließen, war nicht ohne Risiko. In den Dörfern und auch an der Wiener Stadtgrenze führte die Gendarmerie oder Polizei Kontrollen durch und beschlagnahmten alle vorgefundenen Lebensmittel.

Handwerker oder Menschen mit handwerklichem Geschick hatten es etwas leichter, zu essbaren Dingen zu kommen, da sie vielfach nur gegen „Naturalien“ ihre Dienste zur Verfügung stellten. Auf ähnliche, allerdings ungewollte Weise hatte mein Vater die Möglichkeit, Arbeiten für sowjetische Soldaten durchzuführen, um dafür sehr bescheidene Mengen an Lebensmittel (Brot, Speck, Wurst, u.ä.) zu erhalten. Er war nämlich Herrenschneider und besaß im 2. Stock eines Wiener Wohnhauses eine kleine Werkstatt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein Volksschulgebäude, das von sowjetischen Soldaten besetzt war. Kaum hatten diese den „Schneider“ entdeckt, kamen täglich mehrere Soldaten aller Dienstgrade, die ihre Uniform zum Flicken oder Ändern brachten. Bezahlt wurde mit Lebensmitteln oder gar nicht.

Zur selben Zeit hatten wir in unserer kleinen Wohnung ein Huhn, fütterten es, so gut wir konnten, um uns zu Weihnachten ein leckeres Mahl zubereiten zu können. Als es dann so weit war, brachte es niemand übers Herz, dieses Tier zu töten, denn es benahm sich unterdessen wie ein anhängliches Haustier und gehörte schon zur Familie.

Nach dem Krieg besuchte ich wieder meine Ingenieurschule in Wien. Bevor der Unterricht, wenn auch notdürftig, wieder beginnen konnte, mussten Lehrer und Schüler zuerst den Kriegsschutt beseitigen und alle noch brauchbaren Lehrmittel zusammenkratzen. Als Belohnung dafür bekamen wir täglich eine warme Mahlzeit: Haferflocken in Milchpulver angerührt und mit etwas künstlichem Süßstoff vermengt. Doch auch dafür waren wir dankbar, da es meistens die einzige warme Mahlzeit des Tages war. Bei den Aufräumungsarbeiten lernte ich einen Kollegen kennen, der professionell Schleichhandel mit landwirtschaftlichen Produkten betrieb. Seine Eltern besaßen nämlich einen Bauernhof in Niederösterreich. Nachdem der Schulbetrieb wieder einigermaßen lief, fragte er mich, ob ich bereit wäre, für ihn gegen Lebensmittel die als Hausarbeit gedachten Konstruktionszeichnungen anzufertigen. Aus der Not heraus nahm ich dieses Angebot an und konnte dadurch den noch immer herrschenden Ernährungsnotstand etwas lindern.

Ab September 1945 trat in Wien eine etwas bessere Versorgung mit Lebensmittel ein, die von einer Verbesserung der Qualität, aber kaum von der Vergrößerung von Rationen gekennzeichnet war. Ab diesem Zeitpunkt wurde nämlich unsere Stadt durch die Besatzungsmächte in vier Zonen aufgeteilt. In den einzelnen Zonen wurde die Bevölkerung von der jeweiligen Besatzungsmacht versorgt. Währendem sich in der Sowjetzone die triste Ernährungslage kaum änderte, kamen in den Zonen der Westmächte zusätzlich, aber in sehr geringen Mengen, Nahrungsmittel zur Verteilung, die kaum jemand kannte: Fleisch- und Fischkonserven, Schokolade, Eipulver, u. ä.

Als ich im September 1947 heiratete, also zweieinhalb Jahre nach Kriegsende, gab es noch immer erhebliche Ernährungslücken. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sehr unsere Angehörigen bemüht waren, unter Aufbietung aller verfügbaren, finanziellen Mittel im Schleichhandel für das Hochzeitsessen Lebensmittel zu beschaffen. Mit großen Schwierigkeiten gelang es uns schließlich ein Stück Fleisch zu erwerben, ohne zu wissen, von welcher Tiergattung es stammte. Jedenfalls wurde es beim Dünsten immer zäher und war schließlich ungenießbar geworden. Zu dieser Zeit gab es nur zweimal täglich eine Zufuhr von Gas mit geringem Druck: von 9.00 – 11.00 Uhr und von 16.00 – 18.00 Uhr, womit das Kochen damals überhaupt zur Qual wurde. Statt dem „Hochzeitsmahl“ gab es nur eine Jause: Ersatzkaffee mit Milchpulver und „Nussstrudel“, wobei statt Nüssen als Fülle gekochte braune Bohnen faschiert und mit künstlichem Süßstoff versetzt verwendet wurden.

Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass speziell die Schweiz, auch Schweden, während dieser Zeit zahlreiche österreichische Kinder für einige Wochen aufnahmen, um sie vor dem Verhungern zu bewahren.

Im Juli 1948 leiteten die Vereinigten Staaten von Amerika eine großangelegte Hilfsaktion ein, die vorerst nur Kindern, sowie alten und kranken Menschen zu Gute kam.

Ab dem Jahre 1949 verbesserte sich zusehends das gesamte Warenangebot, doch konnte es von der Bevölkerung nicht angenommen werden, da unterdessen die Preise den Löhnen davonliefen. Die Lebensmittelrationierung blieb weiter aufrecht, lediglich Brot und Mehl waren wieder im freien Handel erhältlich. Erst im Jahre 1950 wurde die Bewirtschaftung von Lebensmittel, außer Fleisch und Fleischwaren, gänzlich aufgehoben. Ein Engpass in der Fleischversorgung führte vorübergehend dazu, zwei fleischlose Tage pro Woche einzuführen. Doch auch diese schon ertragbare Ernährungslücke wurde im Juli 1952 geschlossen.

Beim Schreiben dieser Zeilen stellte ich mir oft die Frage, wie groß der Überlebenswillen von uns Menschen damals gewesen sein muss, um solche Zustände so lange ertragen zu können und trotzdem vertrauensvoll den Wiederaufbau schafften.

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