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Zu Hause - Zeitzeugen-Bericht von Kurt Motlik

Bild von Kurt MotlikVORKRIEGSZEIT (ZWISCHENKRIEGSZEIT)

Zu Hause

Der wohl am häufigsten benützte Aufenthaltsort zu dieser Zeit war die eigene Wohnung, so man überhaupt eine besaß. Sie befand sich überwiegend in triesten Wohnhäusern, auch Zinskasernen genannt, hatten 4-5 Stockwerke, verfügten aber über keinen Aufzug. Im Erdgeschoss gab es noch keine Sammelbriefkästen, so wie heute, sondern der Briefträger musste von Tür zu Tür gehen, um die Post abzuliefern. Für die Überbringung von Geldbeträgen waren eigene Geldbriefträger zuständig, da es noch keine privaten Bankkonten gab. In jeder Wohung waren Zähler angebracht, die den Strom- und Gasverbrauch registrierten. Diese wurden 2-monatlich von einem Bediensteten der Gemeinde Wien abgelesen und der angefallene Verbrauch mit den Mietern gleich abgerechnet.

In diesen Zinskasernen bestanden die Wohnungen größtenteils aus einem Zimmer und einer Küche mit insgesamt 30-35 qm und wurden von den Eltern mit 3-4 Kindern bewohnt. Die Küchen hatten in der Regel nur ein Fenster zum Gang, die Zimmer zwei Fenster, entweder zur Straße oder zu einem dunklen Hof, in dem sich die Mistkübel und eine Teppichklopfstange befand. Staubsauger gab es damals noch keine, dafür aber jede Menge Ungeziefer. In jeder Küche stand ein gemauerter Herd, der mit Holz oder Kohle zu befeuern war und sowohl zum Kochen, als auch zum Heizen benützt wurde. Später gab es einfache Gasgeräte, die man auf den Herd stellen konnte. Im Zimmer befand sich ein Kohlen- oder Kachelofen, der zur Standardeinrichtung der Wohnung gehörte. Das Heizmaterial wurde von einem Kohlenhändler in Butten geliefert und in eine Kohlenkiste geleert, die sich meistens neben dem Küchenherd befand. Auf dieser Kohlenkiste stand auch die Waschschüssel aus Blech, die von der gesamten Familie zur Körperreinigung verwendet wurde. Bäder in den Wohnungen waren äußerst selten anzutreffen. Dafür befanden sich in einigen Bezirken sogenannte „Tröpferlbäder“, wo man gegen ein geringes Entgeld für kurze Zeit eine offene Brausekabine benützen konnte. Die Schlafgelegenheiten für die ganze Familie standen im Zimmer. Einen Tisch mit Sesseln konnte man oft nicht aufstellen, da auch 2-3 schmale Schränke für Wäsche und Bekleidung dort Platz finden mussten. Mehr Schrankraum war ohnehin nicht nötig, da man fast nur das zum Anziehen hatte, was man gerade am Körper trug. Die Kinderbekleidung ging von den größeren auf die kleineren Kinder über, womit man sich das Geld ersparte, das man ohnehin nicht besaß. Manchmal kam es sogar vor, dass aus der Not heraus in dieser Wohnung ein sogenannter „Bettgeher“ einen Schlafplatz benützen konnte. In diesem Fall wurde einem oft fremden Menschen in der Küche eine Schlafstelle zur Verfügung gestellt, für den er einen geringen Betrag bezahlen musste.
Manchmal musste der Vater sogar seinen Beruf in dieser kleinen Wohnung ausüben. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Schneider und Schuster, die vor dem 1. Weltkrieg nach Wien kamen und sich hier ansiedelten.

Eine eigene Spielecke für Kinder gab es natürlich nicht. Es war dafür nicht nur kein Platz vorhanden, sondern sie hatten fast keines. Man konnte es sich einfach nicht leisten.

In vielen Wohnungen gab es aus Platzmangel nur einen Tisch und der stand in der Küche, worauf auch die Kinder ihre Hausaufgaben machen mussten.

Man fand damals noch etliche Häuser, in welchen der elektrische Strom noch nicht eingeleitet war. Daher gab es auch noch keine mit elektrischem Strom betriebenen Geräte. Die Beleuchtung der Stiegenhäuser und Wohnungen erfolgte dann mit Gaslampen, die mit Streichhölzern angezündet werden mussten. Selbst später, als der Strom schon eingeleitet war, wurde er oftmals nicht in Anspruch genommen, weil er viel zu teuer war. Man benützte in diesem Fall für die Beleuchtung Petroleumlampen oder Kerzen.

Die Art der Ernährung war ebenfalls sehr genügsam, denn es durfte nicht viel kosten. Man beschränkte sich daher hauptsächlich auf Gemüse, Kartoffeln, Teigwaren und Brot. Fleisch oder Geflügel gab es nur an Sonntagen und zu hohen Feiertagen, Bohnenkaffee überhaupt nur zu Ostern oder Weihnachten oder zu anderen hohen festlichen Anlässen, und da nur jeweils zu 5 dag (Anmerkung der Redaktion: dag = Dekagramm;  1 dag = 10g).

Nur ganz wenige Haushalte besaßen einen Eiskasten. Dieser musste mehrmals wöchentlich mit Eisstücken befüllt werden, die ein mit Pferden bespannter Eiswagen lieferte. Diese Eisstücke wurden mit einem Kübel von der Straße geholt und in einen Behälter im Eiskasten geleert.

In jedem Stockwerk befanden sich durchschnittlich 6 Wohnungen. In jedem Stockwerk stand am Gang aber nur ein Hahn für Wasser zur Verfügung, der im Winter regelmäßig einfror. Für 2 Familien gab es nur ein Klo ohne Wasserspühlung, das von bis zu 12 Personen benützt werden musste. Außerdem stand in jedem Stockwerk ein Spucknapf aus Holz, der mit Sägespänen gefüllt war und vom Hausbesorger regemäßig gereinigt werden musste. Abgesehen davon hatte der Hausbesorger natürlich auch andere Aufgaben. Er war der verlängerte Arm des Hausbesitzers und damit fast eine halbe Amtsperson, musste für die Einhaltung der Hausordnung sorgen und am Monatsbeginn von den Bewohnern die Miete einkassieren. Außerdem musste er die Benützung der Waschküche und des Trockenbodens verwalten und überwachen.

Die Mieten waren verhältnismäßig hoch. Konnte sie nicht bezahlt werden, wurde nach einer Mahnung die gesamte Familie auf die Straße gesetzt und war somit obdachlos. Hatte diese Familie Glück, wurde ihr ein Raum in einem Asyl zugewiesen oder sie wurde in feuchten Kellerräumen untergebracht. Besonders arme Familien waren sogar gezwungen, auf irgendeiner Wiese eine Hütte aus alten Brettern und Blechabfällen zu bauen, um auf diese Weise einen Unterstand zu finden.

Da es damals noch keine Waschmaschinen gab, befand sich im Keller dieser Zinskasernen eine primitive Waschküche, die aus einem beheizbaren Wasserkessel, mehreren Waschtrögen und einer Wäscherumpel bestand. Sie durften von jeder Partei nur 1-mal monatlich benützt werden. Nach dem die Wäsche mühsam mit den Händen gereinigt war, musste man sie, nass und schwer, in Wäschekörben 5-6 Stockwerke hochschleppen, um sie am meist verschmutzten Dachboden zum Trocknen aufzuhängen.

Zu einigen Wohnungen gab es finstere Kellerabteile zum Aufbewahren von Dingen, die in der Wohnung keinen Platz fanden, wie zum Beispiel Heizmaterial. Beim Betreten des oft feuchten Kellers musste man besonders vorsichtig sein, um nicht auf Ratten zu steigen, da es dort von diesen Tieren nur so wimmelte.

Im Vergleich zum Bedarf wurden zu dieser Zeit von der Gemeinde Wien in bescheidenem Ausmaß sogenannte Sozialwohnungen errichtet. Jede dieser Wohnungen besaß bereits eingeleitetes Fließwasser, ein eigenes WC, ein Vorzimmer und manchmal auch einen Balkon. In den begrünten Innenhöfen befanden sich Spielplätze, Kindergärten, Bäder, moderne Waschküchen und Bibliotheken. Auch Schulzahnkliniken waren zum Teil dort untergebracht, wo Volksschüler in regelmäßigen Abständen ihre Zähne behandelt bekamen und gleichzeitig lernten, wie man richtig die Zähne putzt.

Leider konnten damals wegen Geldmangel nur wenige solcher Sozialwohnbauten errichtet werden, sodass der größte Teil der Bevölkerung die triesten Wohnverhältnisse weiter erdulden musste. Erst nach dem 2. Weltkrieg wurde in Wien dieses Wohnbauprogramm verstärkt fortgesetzt, sodass derzeit eine große Anzahl dieser Wohnungen zur Verfügung stehen.

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