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Der Weg in die Zukunft - Zeitzeugenbericht von Kurt Motlik

Bild von Kurt MotlikDer Weg in die Zukunft

Ich hatte großes Glück das Kriegsende als 18-jähriger Soldat in meiner Heimatstadt Wien erleben zu dürfen. Nachdem der letzte Schuss gefallen war, musste man wieder an die Zukunft denken.

Es war Anfang Juni 1945. Die von den schweren Kämpfen um Wien gezeichneten Schulen öffneten wieder ihre beschädigten Tore. Alle verfügbaren Professoren und Schüler waren aufgerufen und sehr bemüht mit knurrendem Magen den Schutt zu beseitigen und anschließend die beschädigten Einrichtungen notdürftig zu reparieren. So auch in der HTL Schellingasse im 1. Bezirk in Wien, die ich bis zu meiner Einberufung zum Militär besuchte. Als Belohnung bekamen wir täglich eine warme Mahlzeit: Teigwaren in Pulvermilch angerührt. Dies war für uns sehr hilfreich, da die Lebensmittelversorgung kaum in Schwung kam, wobei außerdem Strom und Gas täglich nur wenige Stunden zur Verfügung standen. Die öffentlichen Verkehrsmittel fuhren auch noch nicht, sodass alle Wege zu Fuß erledigt werden mussten.

In der Schule selbst versuchte man noch benützbare Lehrmittel zu sammeln, um allmählich in den Schulalltag einsteigen zu können. Zu Beginn des neuen Schuljahres im Herbst 1945 war man erfreulicher Weise bereits so weit, schon für den kommenden Sommer 1946 die erste Friedens-Reifeprüfung in Aussicht zu stellen. Sie fand auch wirklich statt. Mit „ausgezeichneten Erfolg“ bestand ich am 28.6.1946 die Reifeprüfung als „Ingenieur für Maschinenbau“, womit zwar die Fachrichtung fixiert war aber noch immer nicht der Weg in das Berufsleben.

Rückblickend auf die Zwischenkriegszeit mit einem Heer von Arbeitslosen konnte mich mein Vater davon überzeugen eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst anzustreben. Es gelang auch, denn schon am 15.7.1946 wurde ich bei den ÖBB aufgenommen. Vorerst allerdings nur als Hilfsarbeiter in einer Ausbesserungswerkstätte für Dampflokomotiven im Wiener 21. Bezirk. Von den überbauten Flächen dieses Werkes waren laut einer Dokumentation 74% total und weitere 22% teilweise zerstört – also ein einziger Trümmerhaufen. Es lag daher nahe als Hilfsarbeiter sofort für Aufräumungsarbeiten herangezogen zu werden. Erschwerend kam noch hinzu, dass ich im 5. Bezirk, also etwa 15 km weiter entfernt wohnte und meinen Arbeitsplatz nur mit provisorisch zusammen geflickten und maßlos überfüllten Straßenbahnzügen erreichen konnte. Am Weg dorthin musste die Fahrt unterbrochen werden, da die Floridsdorfer Brücke – von deutschen Truppen gesprengt – in der Donau lag. Obwohl sowjetische Pioniere über die aus dem Wasser ragenden Brückenteile einen schmalen Holzsteg gebaut hatten, war die Überquerung der Donau auf diesem Weg äußerst lebensgefährlich. Besonders im Winter, wenn sich zu den Hauptverkehrszeiten bei Schnee und Glatteis Menschenströme in beide Richtungen drängten.

Im Laufe der Zeit hatte sich bei den ÖBB die Lage soweit normalisiert, dass ich im Juni 1947 eine zweijährige Laufbahn für den maschinentechnischen Dienst beginnen konnte. Diese Laufbahn sah vor, durch Einschulung in verschiedenen Bereichen umfassende Kenntnisse über den gesamten Eisenbahnbetrieb zu erlangen. Das gewonnene Wissen musste am Ende der Einschulung im Rahmen mehrerer behördlicher und dienstlicher Prüfungen unter Beweis gestellt werden. Erst dann war es möglich eine leitende Position zu erlangen. Unter anderem war im Ausbildungsprogramm auch vorgesehen, mehrere Monate als Lokheizer verwendet zu werden. Zu diesem Zweck wurde ich nach Mistelbach versetzt. Von der Versorgungslage her war es dort im ländlichen Raum natürlich besser als in Wien. Doch der Zugverkehr lag immer noch im Argen. Die Lokomotiven und Wagen waren nur bedingt betriebstauglich und die Kohle zum Feuern der Lokomotiven war auch nicht immer vorhanden. Die Fahrpläne waren unverlässlich und konnten oft nicht eingehalten werden. Die Zugdichte war ebenfalls sehr kümmerlich. So gab es für die Fahrt von Mistelbach nach Wien-Stammersdorf bzw. von Wien-Stammersdorf nach Mistelbach täglich nur einen Zug, der sowohl Personen als auch Güter zu befördern hatte. Dieser Zug fuhr morgens von Wien-Stammersdorf nach Mistelbach und am Nachmittag wieder zurück. Die Fahrzeit für die rund 60 km lange Strecke betrug 6-8 Stunden, weil in jedem Bahnhof auch Verschubarbeit geleistet werden musste. Heute beträgt die Fahrzeit mit der Schnellbahn kaum eine Stunde. Es kam aber auch vor, dass sowjetische Soldaten vorübergehend die Lok samt Besatzung für ihre Zwecke beschlagnahmten, sodass an diesem Tag der Zug seinen Zielbahnhof überhaupt nicht erreichte. Dann hieß es eben einen Tag lang warten.

Ende August 1947 war der Spuk endlich vorbei - glaubte ich zumindest, denn ich kam zur weiteren Ausbildung nach Wien-Ost. Doch das Gegenteil war der Fall, da es dort vor sowjetischen Soldaten nur so wimmelte. Abgesehen davon, dass man immer Angst haben musste, beraubt oder entführt zu werden, gab es für mich – damals noch immer Lokheizer – auch keine geregelte Arbeitszeit. Die sowjetische Besatzungsmacht forderte, jederzeit für Truppentransporte zur Verfügung zu stehen ohne zu wissen, wie lange der Einsatz dauern wird – und das immer noch mit knurrendem Magen. Sich gegen diese Vorgangsweise zu wehren, wäre sinnlos und lebensgefährlich zugleich gewesen, denn so mancher Kollege blieb wegen Sabotage plötzlich für immer verschwunden.

Im Juni 1949 ging meine zweijährige Ausbildung zu Ende, nachdem ich während dieser Zeit die Dienstprüfungen für Fernschreiber und Fahrdienstleiter, die behördlichen Prüfungen für Dampfkesselwärter und Triebfahrzeugführer (Dampf, Diesel und Elektro), sowie als Abschluss die maschinentechnische Fachprüfung abgelegt hatte. Anschließend wurde ich vorerst als technischer Fachbeamter im eingangserwähnten Dampflokausbesserungswerk eingesetzt. Da sich dieses Werk in der sowjetischen Besatzungszone befand, hatte ich auch in dieser Funktion immer wieder gefahrvolle Kontakte zu Besatzungssoldaten, denn diese überwachten in schikanöser Weise die Reparatur ihrer Lokomotiven.

Trotz allem hatte ich aber das Glück, mich während dieser Zeit auch mit Aufgaben der Versuchs- und Messtechnik befassen zu müssen. Dies führte schließlich dazu, dass ich im Mai 1954 zur Generaldirektion der ÖBB in Wien versetzt wurde, um dort das Arbeitsgebiet „Versuchs- und Messtechnik für Schienenfahrzeuge“ zu übernehmen. Da ich bis zur Ruhestandsversetzung diese Tätigkeit in leitender Funktion beibehalten konnte, hatte ich die Möglichkeit, im Verlauf von mehr als drei Jahrzehnten alle Entwicklungsstufen der Messtechnik und des Schienenfahrzeugbaus mitzugestalten. Eine Reihe von spektakulären Versuchen war auch der Anlass, weshalb ich im April 1979 vom österreichischen Bundespräsidenten „Für Verdienste um die Republik Österreich“ ausgezeichnet wurde.

Obwohl ich mir während meiner Schulzeit „den Weg in die Zukunft“ etwas anders vorgestellt hatte, war das erreichte Ziel am Ende dieses Weges doch sehr erstrebenswert gewesen – und im Nachhinein bin ich meinem Schicksal sehr dankbar.

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