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Abgesprungen - Zeitzeugenbericht von Kurt Motlik

Bild von Kurt MotlikAbgesprungen

Mittwoch, 4. April 1945, um die Mittagszeit im Bahnhof Angern an der March, 40 km nördlich von Wien.

Ein langer Eisenbahnzug mit deutschen Elitesoldaten samt Kriegsgerät ist angekommen und wird entladen. Ich gehöre auch zu dieser Einheit. Wir haben eine lange Irrfahrt hinter uns.

Zuletzt waren wir gemeinsam mit mehreren tausend anderen deutschen Soldaten an der Ostfront im Kampfraum Küstrin von starken, sowjetischen Truppenverbänden eingeschlossen. Eine Befreiung von außen war offenbar nicht mehr möglich. Deshalb erhielten wir den Befehl, in kleinen Gruppen zu versuchen, den sowjetischen Belagerungsring zu durchstoßen. Nach der Devise: „Rette sich, wer kann!“. Ich war einer der wenigen hundert deutschen Soldaten, die den Durchbruch schafften. Der Rest geriet entweder in Kriegsgefangenschaft oder war gefallen. Nach dem Erreichen der deutschen Hauptkampflinie wurden wir gesammelt und in Ruhestellung gebracht. Dort wurden wir verarztet, verpflegt, konnten uns nach langer Zeit wieder waschen und endlich auch die Unterwäsche wechseln. Doch dieser Traum dauerte nur 2 Tage. Es war gerade Ostern, als wir wieder in Güterwagen verladen mit einem Eisenbahnzug nach Berlin gebracht wurden, um die Reichshauptstadt zu verteidigen. Kaum angekommen, ging die Fahrt weiter in Richtung Westfront. Am Weg dorthin wurden wir abermals umdirigiert und wir fuhren wieder nach Osten. Unterwegs gab es erneut einen Schwenk nach Süden und wir landeten schließlich in Angern.

Angern liegt am westlichen Ufer der March. Am gegenüberliegenden Ufer steht bereits die Rote Armee zum Übersetzen des Flusses bereit. Während der Entladung habe ich den Befehl, auf der Laderampe des Bahnhofs diesen Vorgang mit einem schwenkbaren Maschinengewehr gegen sowjetische Tiefflieger zu sichern. Anschließend wird die gesamte Fahrzeugkolonne in Richtung Süden (etwa nach Wien?) in Marsch gesetzt, aber unterwegs in einem Wald bei Straßhof angehalten. Dort verbringen wir, kampfbereit unter unseren LKWs liegend, die Nacht, um vor sowjetischem Granatfeuer etwas Schutz zu finden. Doch die Nacht verläuft sehr ruhig. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass ich im Jänner 1945 mit 20 anderen Kameraden, durchwegs Wiener und Niederösterreicher, von den Panzer-Pionieren in Wien-Klosterneuburg zu dieser nur aus Norddeutschen bestehenden Eliteeinheit an die Ostfront abkommandiert worden war. Gegenwärtig besteht unsere Gruppe nur mehr aus drei Mann: Leo Ferschin aus dem 6., Rudolf Schwibitzer aus dem 21. und ich aus dem 5. Wiener Gemeindebezirk. Über den Verbleib der restlichen Kameraden wissen wir nur von einigen, dass sie gefallen waren. Von den übrigen ist uns nichts bekannt.

Wir drei sind gemeinsam in einer kleinen Kampfgruppe, werden mit demselben LKW transportiert und haben daher ständigen Kontakt zueinander. Am nächsten Morgen, also am 5. April 1945, müssen wir wieder unsere Mannschafts-LKWs besteigen und die Fahrzeugkolonne setzt sich in Richtung Wien in Bewegung. An der Stadtgrenze wird der Konvoi angehalten und der Kommandeur unserer Kampfeinheit, ein sehr junger SS-Offizier im Rang eines Majors, dessen Befehlswagen sich an der Kolonnenspitze befindet, befiehlt uns drei Wiener zu sich um uns nach dem kürzesten Weg zum Wiener Zentralfriedhof zu befragen. Dort befindet sich nämlich schon die deutsche Hauptkampflinie.

Es ist ein sonniger Tag, dieser 5. April 1945. Doch der Blick ist sehr getrübt, da dichte Rauch- und Staubwolken über Wien liegen. Eine richtige Weltuntergangsstimmung. Wir wissen nun, dass die Fahrzeugkolonne unserer Empfehlung folgend über den Praterstern (ein Kreisverkehr mit einem Durchmesser von etwa 100 m) fahren wird. Die bereits knapp vorher von uns gefasste Absicht, vorübergehend die Truppe zu verlassen, wird dadurch konkreter. Wir erhielten nämlich seit vielen Wochen keine Post mehr aus der Heimat und wollen wirklich nur einen Sprung nach Hause machen um dann wieder zur Truppe zurückzukehren. Jeder von uns ist kaum 18 Jahre alt, aber von den Kriegserlebnissen (verwundet und verschüttet) psychisch bereits schwer gezeichnet. Wir sind uns der Lebensgefahr sicher nicht bewusst, in die wir uns begeben werden. Im Krieg wird nämlich unerlaubtes Entfernen von der Truppe Fahnenflucht genannt und mit dem Tod durch Erschießen oder Hängen bestraft.

Lautlos und nur mit Augenzwinkern signalisieren wir uns den Absprung von unserem im Kreisverkehr des Pratersterns langsam fahrenden LKW zu wagen. Nach dem Überklettern der hinteren Bordwand springt zuerst Schwibitzer, dann Ferschin und zuletzt ich. Der Absprung und die Flucht gelingen, obwohl knapp hinter unserem LKW mit einer Stange verbunden ein weiterer fährt, von dem aus unsere Absicht sicher erkannt worden war. Hierbei wird mir ein Erlebnis für immer in Erinnerung bleiben: Am Beifahrersitz des nachfolgenden LKWs sitzt ein SS-Unteroffizier mit schussbereiter Maschinenpistole. Als ich über die Bordwand krieche, treffen sich unsere Blicke. Dabei hinterlässt sein Gesichtsausdruck bei mir das Gefühl, als ob er mir lächelnd zurufen will: „Ich wünsche dir viel Glück!“. Trotz Schießbefehl erschießt er mich nicht, dieser SS-Unteroffizier Schäfer aus Sachsen. Ich habe ihn bis heute nicht vergessen.

Nach dem Absprung laufe ich so schnell ich kann zu einer Bedürfnisanstalt aus Metall, suche dort Deckung und warte, bis das letzte Fahrzeug unserer Kolonne vorbeigefahren ist. In unmittelbarer Nähe befindet sich die Endstelle einer noch verkehrenden Straßenbahnlinie. Ich besteige einen Zug und fahre in Richtung meines Heimatbezirks. Plötzlich setzt heftiges sowjetisches Artilleriefeuer ein, der Straßenbahnzug hält an und alle Fahrgäste einschließlich Zugpersonal flüchten. Ich aber gehe zu Fuß weiter, weil ich vorerst meine spätere Gattin aufsuchen will, doch das Haus ist zerstört. Unter Umgehung mehrerer Straßen- und Panzersperren gelange ich zu meinem Wohnhaus. Der Weg dorthin führt direkt zur Hauptkampflinie, sodass ich bei den zahlreichen Kontrollen durch SS-Streifen, die alle flüchtenden Soldaten an die Front zurückjagen, keine Schwierigkeiten habe.

Als ich vor meinem Wohnhaus stehe, muss ich mit Schrecken feststellen, dass es durch Bombentreffer schwer beschädigt ist. Deshalb glaube ich auch zu wissen, weshalb ich an der Front von daheim keine Post erhalten habe. Als ich das Haus betrete, finde ich nur versperrte Wohnungen vor. Alle Bewohner sind nämlich schon im Keller versammelt, um das Ende der Schlacht um Wien abzuwarten. Vergeblich suche ich dort meinen Vater – ich bin seit meiner Kindheit Halbwaise – doch ich erfahre, dass er die Osterfeiertage außerhalb Wiens verbringen wollte. Wahrscheinlich wurde er aber von der Kriegswalze überrollt und konnte daher nicht zurückkehren. Die Hausparteien, die mich größtenteils schon als Baby und daher auch mein Schicksal kennen, nehmen mich freudig in Empfang und überreden mich, nicht mehr an die Front zu gehen. Sie geben mir Zivilkleider zum Umziehen, versorgen mich der Lage entsprechend mit Essen und Trinken, bauen für mich ein Versteck aus mehreren Waschtrögen und tarnen es mit feuchten Tüchern. Fast drei Tage lang muss ich dort kauern, um nicht von den ständig nach Fahnenflüchtigen suchenden SS-Streifen entdeckt zu werden.

Am 8. April 1945 erobern sowjetische Soldaten im Straßenkampf unser Wohngebiet. So gelingt mir auf abenteuerliche Weise der zweite Absprung, nämlich der als Soldat von der Deutschen Wehrmacht.

Für mich ist der Krieg zwar beendet, aber mein Leben noch lange nicht gesichert. Das ist jedoch eine andere Geschichte.

Nachsatz: Rudolf Schwibitzer traf ich zufällig bei einer Bahndienststelle in Wien und hatte bis zu seinem Ableben im Jahre 2003 persönlichen Kontakt. Leo Ferschin hingegen blieb für mich, trotz großer Bemühungen, verschollen.

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