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Die Anzahl psychischer Erkrankungen steigt
Chefarzt Prof. Thomas Wobrock: „Psychische Erkrankungen werden immer noch als etwas erlebt, wofür man sich schämen muss“
„Hoher Erwartungsdruck und Leistungsverdichtung“: Auszubildende und Schüler immer häufiger mit psychischen Problemen
17. März 2016. Immer häufiger lassen sich Menschen wegen psychischer Erkrankungen krankschreiben. Das zeigt der Fehlzeiten-Report 2015 der AOK. Die Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Beschwerden nahmen im Vergleich zu 2014 um 9,7 Prozent zu und führten zu längeren Ausfallzeiten am Arbeitsplatz. Es trifft zudem immer mehr junge Leute, vor allem Auszubildende. „Das gibt Anlass zur Besorgnis“, sagt Prof. Dr. Thomas Wobrock, Leiter des Zentrums für Seelische Gesundheit der Kreiskliniken Darmstadt-Dieburg. Vier Jahre nach Gründung der Klinik zur Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zieht Prof. Wobrock zugleich Bilanz und gibt eine Einschätzung zur Entwicklung psychischer Erkrankungen in der Region.
Beschwerden trotz gesundheitsbewusster Lebensweise
Laut dem neuesten AOK-Fehlzeitenreport sind die psychisch bedingten Arbeitsausfälle nicht nur stark gestiegen, sondern stellen mit 25,2 Tagen im Schnitt auch die längste Ausfalldauer aller Krankheiten dar. 2014 lag dieser Wert noch bei 11,9 Tagen. Betroffen sind zudem immer mehr Auszubildende. Mehr als die Hälfte von ihnen (54,3 Prozent) lebt zwar gesundheitsbewusst und klagt auch kaum über gesundheitliche Probleme. Allerdings berichtet ein Drittel über häufig auftretende körperliche und psychische Beschwerden. Kopf- und Rückenschmerzen, Verspannungen sowie Erschöpfungszustände wurden dabei am häufigsten genannt. Gesundheitsgefährdendes Verhalten ist bei jedem fünften Auszubildenden (21,9 Prozent) zu beobachten. Dazu zählen Bewegungsmangel, falsche Ernährung, Alkohol, Zigaretten und die übermäßige Nutzung von Medien.
„Beschleunigung und hoher Arbeitsdruck“
„Die Beschleunigung der Arbeitswelt, hoher Arbeitsdruck sowie die höhere Sensibilisierung für psychische Belastungen können einige der Gründe für die höhere Anzahl psychischer Krankschreibungen sein“ erklärt Prof. Dr. Thomas Wobrock. Prof. Wobrock ist Experte auf dem Gebiet der psychischen Erkrankungen und bereits vier Mal in die Focus-Ärzteliste aufgenommen worden, zuletzt 2015. Seit 2011 ist Prof. Wobrock Leiter des Zentrums für Seelische Gesundheit der Kreiskliniken Darmstadt-Dieburg. Neben seiner Tätigkeit als Chefarzt lehrt er an der Georg-August-Universität in Göttingen das Fach Psychiatrie und Psychotherapie.
Fragen an Prof. Thomas Wobrock:
Herr Prof. Wobrock, das Zentrum für Seelische Gesundheit besteht seit mittlerweile vier Jahren. Welche psychischen Erkrankungen behandeln Sie dort am häufigsten?
Im Zentrum für Seelische Gesundheit werden Menschen mit den verschiedensten psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter behandelt, so dass sich das gesamte Spektrum der seelischen Störungen abbildet. Betrachtet man die Auswertung für das Jahr 2014, so sind in diesem Jahr insgesamt knapp 1.500 Patienten bei uns vollstationär oder tagesklinisch betreut worden. Am häufigsten litten die Patienten unter depressiven Erkrankungen (34%), Suchterkrankungen (25%, hauptsächlich Alkoholabhängigkeit), psychotischen Störungen (16%), Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (11%, z.B. Borderline-Störungen) und hirnorganischen Erkrankungen (7%, beispielsweise Demenzen).
Macht sich die Steigerung der Beschwerden, vor allem bei jungen Menschen, auch am Zentrum für Seelische Gesundheit bemerkbar?
Im Verhältnis zu den Patienten in anderen somatischen Abteilungen – wie beispielsweise der Inneren Medizin –, sind die Patienten mit einem Durchschnittsalter von 47 Jahren bei uns deutlich jünger. Dies zeigt, dass viele psychische Erkrankungen wie schizophrene Störungen, Suchterkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen bereits früh im Leben auftreten und das Leben der Betroffenen und Angehörigen deutlich verändern können. Oft geht einer stationären Aufnahme ein längerer Leidensweg voraus, bis sich der Betroffene dafür entscheiden kann, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Psychische Erkrankungen sind eben kein Arm- oder Beinbruch, sondern werden immer noch als etwas erlebt, wofür man sich schämen muss. Diese Stigmatisierung gilt trotz Aufklärungsarbeit in den Medien auch bei jungen Menschen. Dennoch entsteht bei uns der Eindruck, dass die Nachfrage nach Therapieangeboten für immer jüngere Menschen durch Hausärzte, Angehörige und Betroffene selbst, zunimmt. Dies gilt vor allem für jüngere Menschen mit depressiven Erkrankungen, Angststörungen und somatoformen Störungen (psychische Erkrankungen, bei denen körperliche Beschwerden im Vordergrund stehen). Die „klassischen“ Erkrankungen der Psychiatrie wie Schizophrenie oder bipolare Störungen (manisch-depressiv) haben nach meiner Beobachtung eher nicht an Häufigkeit zugenommen.
Worin sehen Sie Gründe, dass bereits Auszubildende und Schüler immer häufiger mit psychischen Problemen zu kämpfen haben?
Für mich ist es nicht eindeutig, dass psychische Probleme bei Auszubildenden und Schülern viel häufiger sind als noch vor 10 bis 20 Jahren. Es könnte auch sein, dass diese heute besser erkannt oder als psychische Störung eingeordnet werden, gerade wenn sie mit körperlichen Beschwerden wie Magenschmerzen, Appetitlosigkeit oder Kopfscherzen einhergehen, statt wie früher als körperliche Erkrankung gewertet werden. Möglicherweise werden auch gesellschaftliche, kulturelle oder private Probleme zu häufig als „psychische Auffälligkeit“ des Einzelnen gesehen. Über andere Ursachen können derzeit nur Vermutungen angestellt werden. Bei sich immer schneller ändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Werteverschiebungen sowie weniger familiärem Rückhalt sind in immer stärkerem Ausmaß Anpassungsleistungen erforderlich. Aber auch die ständige Verfügbarkeit von Ablenkungen durch die multimediale Welt (Facebook, Internet-Surfen, YouTube, Videospiele und ähnliches) verhindert möglicherweise die Auseinandersetzung mit dem „wirklichen“ Leben. Diese Ablenkungen dienen als Flucht in eine „bessere Welt“. und das Internet suggeriert, dass scheinbar alles ohne Anstrengungen erreichbar und ständig verfügbar ist. Der Alltag mit dem Kämpfen um das Erreichen von kleinen kurzfristigen Zielen, aber auch das Entwerfen langfristiger Lebensperspektiven, welche man mit Mühe auch beharrlich verfolgen muss, um sie zu erreichen, wird dann als zu schwierig erlebt und vorzeitig bei eher niedrigerer Frustrationstoleranz resigniert. Aber auch hier können zu hoher Erwartungsdruck und Leistungsverdichtung eine ungünstige Rolle spielen. Entwicklung braucht Zeit und Freiraum. Nur als Beispiel: Der gymnasiale Schulstoff von 9 Jahren ist nicht ohne Verluste anderer Art (Hobbies, soziale Beziehungen etc.) in ein Korsett von 8 Jahren zu pressen.
Was raten Sie jungen Betroffenen und ihren Angehörigen?
Mein Rat ist, keine Scheu davor zu haben, die verfügbaren Hilfen in Anspruch zu nehmen - vom Schulpsychologen bis zur betrieblichen Sozialarbeit, von den Psychosozialen Kontakt- und Beratungsstellen bis hin zu den Psychiatrischen Institutsambulanzen (PIAs) der Kliniken wie beispielsweise auch bei uns am Zentrum für Seelische Gesundheit. Wir sind in Notfällen bei jungen Betroffenen ab 18 Jahren oft die erste Anlaufstelle. Eine gute Zusammenstellung der Hilfsangebote für die Stadt Darmstadt und den Landkreis Darmstadt-Dieburg findet sich im Sozialpsychiatrischen Wegweiser, welcher vom Gesundheitsamt herausgegeben wurde (siehe auch http://www.gesundheitsamt-dadi.de/psyche.html). Bei frühzeitigem Erkennen und Behandeln haben viele Menschen mit psychischen Erkrankungen eine gute Erfolgschance, wieder eine zufriedenstellende private und berufliche Lebensperspektive entwickeln zu können. Angehörige können den Betroffenen für praktische Hilfen und als emotionale Stütze begleitend zur Seite stehen und diese für die Annahme professioneller Hilfsangebote motivieren. Für die eigene Unterstützung und Entlastung in diesen schwierigen Zeiten ist der Angehörigenverband in der Region ein wichtiger Ansprechpartner (siehe Wegweiser).
Das Zentrum für Seelische Gesundheit
Das Zentrum für Seelische Gesundheit an den Kreiskliniken Darmstadt-Dieburg sichert einem Großteil der Bewohner des Landkreises ein gemeindenahes Therapieangebot, steht aber mit seinen spezifischen Angeboten zur Therapie und Diagnostik psychischer Erkrankungen auch überregional Betroffenen zur Verfügung. Es verfügt über 76 Betten, 23 tagesklinische Plätze und eine Psychiatrische Institutsambulanz. Die Ärzte, Pflegekräfte und das gesamte therapeutische Personal des Zentrums behandeln Menschen in Lebenskrisen, mit Erschöpfungszuständen, Depressionen, Abhängigkeitserkrankungen, Angstzuständen, psychotischen Störungen und anderen seelischen Erkrankungen.
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