Egon Bahr im Interview

Egon Bahr zur Frage "Was bleibt?"

"Den Mut zu haben, das Undenkbare zu denken und auch danach zu handeln, ist das, was bleibt." Zum ersten Mal sah ich dem Tod am Silvesternachmittag 1943 ins Gesicht. Ich war Geschützführer, eingesetzt zum Schutz einer V1-Abschussstellung. Ich lief über den Flugplatz, ein riesiges, freies Feld, um die Post zu holen. Plötzlich kam ein Flieger direkt auf mich zu. Ich habe mich hingeworfen, bin in Deckung gegangen hinter einem Grasbüschel. Der Pilot schoss. Aber er traf nicht. Als ich aufstand, sah ich, dass er erneut angriff. Der machte Jagd. Erst nach der dritten missglückten Attacke gab er auf. Erst danach dachte ich an meine Schulzeit. Wir hatten die alten Philosophen noch im Wortlaut gelesen. Eins blieb mir besonders in Erinnerung: Die Schüler von Sokrates haben ihm geraten, er solle vor einem ungerechten Gerichtsverfahren fliehen. Er lehnte ab: Niemand weiß, was nach dem Tod geschieht. Vielleicht ist es das Paradies - wovor sollte man da Angst haben? Vielleicht ist es das absolute Nichts, wie ein traumloser Schlaf - was gibt es Schöneres? Als der Krieg vorbei war, dachte ich: "Gott sei Dank, du hast es überlebt. Gott sei Dank, mit heilen Knochen. Gott sei Dank, dein Vater lebt noch. Du wirst das dir Mögliche tun, damit eine solche Scheiße nie wieder passiert."

Der Apfelbaum ist für mich ein Symbol der Hoffnung, das über den Tag hinaus besteht. Bis zum Ende der Geschichte dauert es noch eine ganze Weile. Scheint die Lage auch ausweglos - man darf nicht resignieren vor dem, was absolut oder angeblich oder wahrscheinlich unvermeidbar ist. Den Mut zu haben, das Undenkbare zu denken und auch danach zu handeln, ist das, was bleibt. Das war auch der Schlüssel unserer Ostpolitik. Ein Tabubruch zur damaligen Zeit: Dem Gegner, dem man bis dahin den Rücken zugedreht hatte, haben wir uns angenähert. Wir haben uns allein auf die Interessen beider deutscher Staaten für bessere Beziehungen konzentriert. Von ideologischen Fragen, wie den Menschenrechten, haben wir uns ferngehalten. Keiner versuchte, den anderen zu bekehren. Im Hintergrund stand das Wort Willy Brandts: "Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts." Der Friede ist der oberste Wert. Alles andere kommt danach: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Denn wir können sie nur erhalten, wenn es keinen Krieg gibt.

Der Bau der Mauer hatte damals den Status quo, die Teilung, zementiert. Wegen Berlin, wegen Deutschland, wegen Europa sollte es keinen neuen Krieg geben. Mein Beitrag dazu war das Viermächteabkommen für Berlin. Die Stadt hat damit ihre insulare Lage verloren. Ab diesem Zeitpunkt konnte man sich sicher mit jemandem in West-Deutschland verabreden. Die Vier Mächte hatten sich vorbehalten einzugreifen, wenn wir uns nicht einigten. Das mussten sie nie. Ich würde das selbst nicht behaupten, Willy aber hat gesagt: "Du hast dir die Ehrenbürgerschaft Berlins verdient." All das wäre jedoch nicht möglich gewesen ohne seine Rückendeckung. Die Akten kann man nachlesen - die Verdienste Brandts sind aus der Geschichte nicht zu löschen.

Was damals im Ost-West-Verhältnis relativ einfach war, ist heute, im digitalen Zeitalter, ungleich schwieriger. Der menschliche Geist steht nicht still. Wie jede große Errungenschaft des Menschen hat auch das Internet militärische Konsequenzen. Staatsgrenzen können in Millisekunden überwunden werden. Selbst der amerikanische Präsident muss eingestehen, dass er seine Bürger kaum vor digitalen Angriffen schützen kann. Eine Lösung habe auch ich nicht. Ich denke aber, wir brauchen ein globales Abkommen, das allen Sicherheit gibt. Willy Brandts Wort gilt weiter, heute und in Zukunft. Es bleibt die Vision der Versöhnung, die Hoffnung, dass Geschichte im Guten, im Besseren weitergeht.

Quelle: Initiative "Mein Erbe tut Gutes. Das Prinzip Apfelbaum"

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